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Das Wappen der Familie Khammas

Seine Mutter

Diese Kurzgeschichte aus Ägypten stammt von Jussuf Idriss (auch Yusuf Idris) - veröffentlicht wurde sie vom 'Haus der Kulturen der Welt' in Berlin, im Rahmen einer Auswahl zeitgenössischer arabischer Lyrik und Prosa. Der malerische Titel dieser Auswahl lautete (nach Goethe): "Gesteht’s! Die Dichter des Orients sind größer..."


Yusuf Idris

Photo von: www.sarsura-syrien.de


Seine Mutter

von Jusuf Idriss / Kairo
Übersetzt von Achmed A. W. Khammas


Er fand sie in einer naßkalten Winternacht.

Eine der Mangroven; es war der drittletzte Baum vor dem Tunnel, nahe der Nilbrücke und am Ende der Kasr-el-Aini Straße.

Er war ausgerissen! Ja, er war wieder einmal ausgerissen.

Er hatte es in den abgestellten alten Eisenbahnwagen probiert, die schon lange nicht mehr benutzt wurden und völlig verrostet auf den Gleisen standen. Er ertrug die Prügel, mit der ihn die Nachtwächter so oft weckten, bis er endgültig vor den stählernen Trassen floh. Er probierte es auch unter den Karren in El-Darrasse und in den Löchern der Mauer von Famm el-Khalij, auf Friedhöfen und in Ruinen, ja sogar in den Schafpferchen des Schlachthofes Al-Madbah. Viele Dinge und viele Orte versuchte er, doch immer verjagten ihn die Menschen wie einen räudigen oder gar tollwütigen Hund.

Er ist ein Ausreißer. Seitdem ihn der Ehemann seiner Mutter hinausgeworfen hatte, trieb er sich herum.

Seinen Vater hatte er nie gesehen, aber er liebte seine Mutter, und seine Mutter liebte ihn. Solange, bis jener Mann auftauchte und die Mutter begann, vor diesem so schwach auszusehen, so kraft- und machtlos. Mal kam er betrunken an, aufbrausend und wild, dann wieder vom Rauch berauscht und tumb. Er kam, und er entleerte seine Raserei und seinen Rausch in die Tiefen der sich windenden, und doch wie auf einem Totenbett daliegenden Mutter, während die Laute ihres Stöhnens und Keuchens zu ihm herüberdrangen. Der neue Gatte hatte sie in eine schmelzende weibliche Flüssigkeit verwandelt, aus willigem Fleisch und einem Herzen, das nach und nach begann, zu erweichen, sich von ihm abzuwenden und zu entfernen.

So hatte er es empfunden, und so empfand er es auch weiter. Täglich wendete sich das Herz seiner Mutter ein wenig mehr von ihm ab und näherte sich dafür etwas weiter jenem Mann und dessen heftigen Ausbrüchen. Es näherte sich, glich sich an, wurde willfährig und zerfloß, bis er eines Morgens aufwachte und merkte, daß der Mann seine Mutter nun genauso genommen hatte wie der Tod seinen Vater. Und als die neue Ehe fruchtbar ein Kind hervorbrachte, für das sich der Bauch seiner Mutter aufblähte, wußte er, daß der seidene Faden, der ihn noch mit jenem Haus, mit jenem Zimmer verbunden hatte, nun endgültig gerissen war.

Der Mann zwang ihn, die Schule zu verlassen und als Laufbursche bei einem Schreiner zu arbeiten. Er rief und flehte die Mutter um Beistand an und war dennoch überhaupt nicht überrascht, als sie ihn anschrie, ihn anfauchte, er hätte gefälligst zu schweigen, um den Säugling nicht aufzuwecken. Und warum denn nicht die Schreinerei? Zumindest bringt sie dir, du Hundesohn, ein Handwerk bei. Hundesohn, oh Mutter? Also ist jetzt mein Vater der Hund...? Mit tränenden Augen willigte er endlich ein. Doch der Schreiner war hartherzig und er selbst oftmals verträumt oder in Gedanken herumschweifend. Er wurde geschlagen, manchmal mit dem Hammer und manchmal mit der hölzernen Pantoffel und immer mit den häßlichsten Schimpfworten dazu.

Da riß er aus.

Er schloß Freundschaft mit den Kindern der Abfallsammler und Bettler; er arbeitete als Bursche in verschiedenen Läden und Geschäften. Doch sie zwangen ihn, den Preis für seine Unterkunft bei jedem von ihnen von seinem Fleische zu zahlen, von der Würde des Mannkindes, den die Tage so schnell altern ließen. Und er zahlte viel.

Wiederum riß er aus.

Sogar vor den anderen Ausreißern riß er aus. Vor dem Einäugigen, der ihm die Tricks der Taschendiebe beibringen wollte, riß er aus; vor dem Blinden, der wollte, daß ihn der Junge führt und sie zusammen betteln gehen, riß er auch aus, denn immer wieder stieß ihm dieser sein stets steifes Glied in den Rücken. Und vor der Frau, die ihn eines Nachts mitnahm und in ihrem Schoß umarmte, erschrak er und riß aus.

Doch die Schwierigkeit beim Ausreißen war nicht der Tag. Er gewöhnte sich daran, in den Müllhaufen immer etwas Eßbares zu finden. Nein, er machte es nicht wie die herumstreunenden Hunde und Katzen. Er wußte, wie er zu suchen hatte und wußte auch auszuwählen. Immer fand er etwas frisches oder nur ganz schwach säuerlich schmeckendes, das er in den Wassern des Nils säuberte und wusch. Sogar die Brotreste wusch er und überließ sie dann der Sonne, die sie trocknete und anwärmte, in Vorbereitung auf das nächste Festmahl.

Schwierig war dagegen die Nacht, die Unterkunft.

Und in einer naßkalten Winternacht fand er sie ...


Mangroven am Wasser

Der Stamm der Mangrove besteht aus seinen Wurzeln, und daher heißt der Baum auch "Mutter der Haare". Die Wurzeln befinden sich teilweise in der Luft, verwachsen miteinander, trocknen in ihrer Vereinigung und bilden dabei den Schaft und den Stamm. Die Jahrzehnte lassen sie wachsen und immer zahlreicher werden, damit sie die furchtbare Last des Baumes tragen können. Und da der Stamm aus verbundenen, und miteinander verflochtenen Wurzeln besteht, ist er nicht glattgeschlossen und rund, sondern bildet viele Zwischenräume aus dem Nah und Fern der Wurzeln zueinander. Große und kleine Zwischenräume, manche nach beiden Seiten hin offen, andere dafür geschlossen, ein Nest mit Decke und nur einem Eingang bildend.

In jener Nacht lief er traurig, doch ohne Tränen herum. Denn wenn die Traurigkeit das tägliche und nächtliche Brot bildet, das sich auch nicht ändert oder wendet, dann weint der Mensch nicht mehr aus Traurigkeit. Die Tränen kommen aus der Hoffnung auf eine Lösung oder aus dem Wissen um eine Hoffnung oder aus der Bitte an unseren Schöpfer, uns zu einer Lösung zu führen. Und sie erleichtern uns, wenn auch nur für eine Stunde, das Ertragen jenes andauernden Schmerzes, welcher uns die Empfindung für den tatsächlichen Schmerz hat verlieren lassen.

In der Nacht fing es an zu regnen. Immer stärker und stärker, bis der Himmel begann, sein Wasser in wilden Sturzbächen herabzugießen, die die Straßen von den Menschen leerte und die ganze Welt von jeder Art Geselligkeit. In einem selbst ruft so etwas ein starkes Gefühl der Angst hervor und einen unbezähmbaren Wunsch zu heulen.

Er flüchtete zu der Mangrove, um sich vor dem Regen zu schützen, dessen Nässe inzwischen bis zu seinen Knochen vorgedrungen war. Und bei dem schwachen Licht einer entfernten Straßenlampe sah er plötzlich die Öffnung. Er näherte sich, begann sie mit den Augen zu untersuchen und war verblüfft, als er ihre Tiefe feststellte, so, als sei es eine Höhle. Eine Höhle mit Auswüchsen und Windungen im Innern, wie ein alter Mund, voll der krummen Zahnstümpfe.

Er zwängte sich hinein.

Es war, als sei er in eine Grotte der Glückseligkeit eingetreten. Allein schon das Gefühl, daß der Regen mit seinem Getrommel aus wässrigen Lanzen aufgehört hatte, seinen Kopf zu attackieren und seine Lumpen zu durchdringen, daß er endlich an einem sicheren Ort angelangt war, allein dieses Gefühl ließ ihn schon überaus glücklich werden. Eine große Freude überkam ihn, als sei er ein alter Landstreicher, dem der Himmel endlich ein Wunderschloß geschenkt hatte.

Das Gefühl blieb und ließ ihn alles vergessen, was er in seinem bisherigen Leben an Rausschmiß und Ausreißen, an Schlägen und Beleidigungen erlitten hatte, ein ganzes ausgedehntes Leben voller Schmerz. Nichts erweckte ihn aus dieser Empfindung, bis ihm plötzlich der unangenehme Gedanke kam, daß er in seinem Versteck ja vielleicht noch Kameraden hätte an Echsen oder Schlangen oder Mäusen oder irgend etwas von all jenem, was da beißt und sticht.

Und als ob es seinen Schrecken bestätigen wollte, fing draußen ein wildes Blitzen an. Und so begann er beim Licht der Blitze und der trüben Straßenlampe die Wände und den Boden seiner pflanzlichen Behausung Spanne für Spanne abzusuchen und fand dennoch nichts anderes als verknöcherte Reste eines Hundes, der schon seit langer Zeit tot war. Er warf das Skelett hinaus. Mit einem Lappen, den er ebenfalls in der Höhle fand, säuberte er den Boden. Endlich hockte er sich nieder, setzte sich hin. Er fühlte sich als glücklichster Mensch auf Erden, glücklicher als jeder König oder reiche Mann, ja glücklicher sogar noch als selbst der Herr Farmaui, der Besitzer aller Karren und Gemüsewagen.

Aus dem Übermaß an Glück heraus begann er, die Betäubung zu bekämpfen, die drohte, sich seines Körpers zu bemächtigen und ihn in einen Schlaf fallen zu lassen, wie er ihn in seinem Leben noch nicht kennengelernt hatte. Denn er befand sich hier weder auf dem Besitz von irgend jemandem, der ihn hiervon vertreiben konnte, noch befand er sich in der Nähe eines Lagers oder Ladens, so daß sie ihn verdächtigen und mitschleifen würden - kein Soldat konnte ihn hier sehen, kein Mensch und kein Djinn. Er leistete Widerstand, um etwas auszukosten, das ihm vorenthalten war, seitdem die Familie einen Raum hatte, und er einen Vater und eine gütige, liebevolle Mutter, in deren Schoß er Wärme und Sicherheit und Schutz vor den Bösartigkeiten der Menschen gefunden hatte.

Er widerstand der Betäubung, die unweigerlich zum Schlaf führen würde, mit seinem Willen, wobei ihm die beißende Kälte gute Hilfe leistete. Und jedes Mal, wenn die Welt draußen blitzte und donnerte, während der Regen beharrlich weiterfiel, und er sich umarmt vorkam von dem alten Baum und geschützt vor allem Unbill, dann fühlte er sich jedesmal wie jemand, der gerade vor dem Ertrinken errettet worden ist. Geschützt war er in einer bewehrten Burg, um die herum alle Unwesen dieser Welt bellten und die Zähne bleckten, während er ihnen doch die Zunge herausstreckte, in Sicherheit und wohl wissend, daß ihre Fänge weit weg von ihm waren und ihr Geheul nur das Wutgebrüll derer war, die es nicht schafften, an ihn heranzukommen. Die Welt war sicher und weich gepolstert, sie erbarmte sich seiner mit pflanzlicher flaumiger Samtigkeit und es floß eine Wärme von ihr zu ihm, deren Herkunft er nicht feststellen konnte.

Er wachte auf.

Er war Vormittag, als er erwachte.

Der Regen hatte aufgehört, doch der Lärm der Straße und der Straßenbahn wirkte, als hätte er schon vor zehn Stunden eingesetzt. Er blickte lange Zeit durch die Öffnung des Baumes zu den Vorüber-gehenden und den vorbeifahrenden Wagen hin. Noch im Halbschlaf ließ er sein bisheriges Leben an sich vorüberziehen um jenen Moment festzuhalten, an dem er sein neues Domizil betreten hatte. Sein ganzen Leben war ein Haufen, und die vergangene Nacht alleine ein zweiter Haufen, und zwischen ihnen gab es einen scharfen trennenden Schnitt.

Mit kraftlosen Fingern und faulen, trägen Armen fing er an, die Innenwände der Spalte zu befühlen, als würde er die Edelsteine eines Schatzes zwischen den Fingern hindurchgleiten lassen, den er endlich gefunden hatte, der nun sein Besitz geworden ist und ganz ihm gehörte.

Er verspürte einen Hunger, wie er ihn sein Lebtag lang noch nicht gekannt hatte.

Doch zuerst mußte er sich das Gesicht waschen, der Nil fließt ja in seiner Nähe. Oh, was für ein prächtiges Schloß, sogar fließendes Wasser hatte er hier. Und es gab genügend Plätze, um die Notdurft zu verrichten.

Es war, als ob sich mit der Lösung der nächtlichen Schwierigkeit seiner Unterkunft und seines Schlafplatzes, auch die Tore des Segens vor ihm öffneten. Er war kaum noch einige Schritte auf der Straße gegangen, als eine Frau, die just in diesem Moment aus dem Autobus ausgestiegen war ihn aufforderte, ihre Tasche zu tragen. Und obwohl die Tasche recht schwer war, fand er sie doch federleicht. Er mußte sie auch nur bis zum Famm el-Khalij tragen und bekam trotzdem von der Frau ganze zehn Piaster! Zum ersten Mal in seinem Leben frühstückte er Bohnen und Felafel und Zwiebeln, trank einen Tee und rauchte eine Zigarette vom Anfang bis zum Ende.

Er lief durch die Straßen der Stadt und bekam viel Arbeit und viel Lohn an diesem Tag. Und als es Nacht wurde, hatte er so viel in der Tasche, daß er abendessen konnte, dann in das Rauda-Kino ging und immer noch einen Riyal übrig behielt, um damit den morgigen Tag zu beginnen.

Als er nach zwei Filmen aus dem Kino kam, fühlte er sich auf dem Weg zu einem Platz, der ihm „äußerst kostbar geworden war. Kostbarer als jeder Ort, als jedes Haus, in dem er je gewohnt hatte. Nur eine einzige Sache ließ in fast ersticken, wenn er daran dachte..., daß er zurückkäme, um den Platz belegt vorzufinden, belegt von einem anderen, der ihn ebenfalls entdeckt hatte. Doch der Baum hatte einen offenen Mund, leer, nur auf ihn wartend; und hätte er nicht Angst davor gehabt, verrückt zu werden, so hätte er sicherlich begonnen, die Innenwände zu umarmen, Lieder von Abdul-Halim Hafeth zu singen und allen vorübergehenden zuzurufen: Ich habe ein Obdach! Sein größtes Glück war, daß er nun endlich etwas besaß, das nur ihm alleine gehörte. Einen Ort, dem er sich ganz zugehörig fühlt. Als hätte er eine Familie gefunden, in der kein Vater stirbt und ihn auch kein Mann seiner Mutter schlägt oder ihm seine Würde zertrampelt. Er, der herumirrende im Meer des Lebens, hatte endlich ein Obdach.

Aber die Nacht war kalt, und obwohl er die Augen geschlossen hielt, wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Doch was machte es schon aus, er konnte ja die ganze Nacht über wach bleiben und trotzdem wäre dieser Platz am Morgen immer noch sein ureigenster Besitz, den ihm niemand streitig machen würde, an dem ihn niemand aufwecken würde, wenn er schläft, sein Ort, sein Heim.

Doch die Kälte nahm zu bis er zu zittern begann. Er würde die Hälfte des morgigen Tages damit verbringen, nach Lumpen oder einer alten Decke zu suchen, um sich damit zuzudecken; die Kälte ließ sich einfach nicht mehr länger ertragen. Auch als er sich hinhockte, sich zusammenkauerte und fest an die Innenwand des Baumes andrückte, sogar als er anfing, seinen Körper an der, im Vergleich zur harten Außenseite, pflanzlich so weichen und feinen Wand zu reiben, erreichte ihn keine Wärme.

Erst im Morgengrauen, und ganz allmählich fühlte er wie eine seltsame Wärme begann, ihn zu umfangen. Sollte dies etwa die Wärme eines Fiebers sein? Hatte ihn die Kälte krank werden lassen? Befand er sich etwa auf dem Weg zum Niesen und Husten und zu einem Kranksein, das ihn letztlich vernichten würde, sollte es ihn befallen? Er befühlte seine Stirn, er verglich die Wärme seiner Hände mit der seines Körpers. Nein, ein Fieber war es nicht, aber er fühlte doch eine spürbare Wärme, ohne ihre Herkunft zu entdecken. Und erst, als er - mehr aus Gewohnheit - die Innenwand der Mangrove befühlte, spürte er, daß i h r die überraschende Wärme entströmte. Er bekam einen Schreck, und fast wäre das Zittern, ein furchtsames Zittern diesmal, vor dieser unheimlichen und seltsamen Wärme zurückgekehrt.

Sicher war er schwachsinnig geworden oder begann zumindest, es zu werden, denn in seinem noch kindlichen Verstand blitzte der Gedanke auf, daß die alte Mangrove wohl anfing, ihn zu wärmen, es eben genauso machte, wie es jede Mutter machen würde, sobald sich ihr Sohn in ihrem Schoß verkriecht und sie dabei fühlt, daß er friert..., ihn zu wärmen! Aber schwachsinnig oder nicht, der Gedanke gefiel ihm und er entspannte sich, bis sogar das Klappern seiner Zähne aufhörte und das Zittern seiner Hände und Füße. Er zog den Kopf herunter und die Knie nah an den Bauch, als ob er die Position eines Ungeborenen im Bauche seiner Mutter einnehmen würde.

Und er schlief.

Je mehr er sich dem Baum zugehörig fühlte, der sein Schutz und seine Zuflucht vor der bösen Außenwelt geworden war, um so öfter floh er auch am hellichten Tage vor der Hitze dorthin, als der Frühling und mit ihm die Mittagsglut begann. Und eines Tages schien es, als ob auch der Baum früher verloren gewesen war wie er selbst, ohne einen Nahestehenden zu haben, genau wie er, denn es sah aus, als würde sich die Öffnung mit der Zeit verändern, um mehr und mehr die Form seines jungen Körpers anzunehmen. An einem anderen Tag überraschte ihn einen neuer Austrieb, der von innen herauswuchs und sich durch die Öffnung hinaus streckte, während er ihn mit Streicheln und Gießen half, bis der Trieb in nur wenigen Wochen so groß wurde, daß er fast die gesamte Öffnung ausfüllte und damit eine Art Tür bildete, so daß niemand mehr die Öffnung zu finden vermochte außer ihm.

Und ohne daß er merkte, was geschah (und natürlich auch ohne daß die Mangrove es bemerkte) wuchs da eine weit größere Beziehung heran, als die des reinen Gefühls der Zusammengehörigkeit oder der gegenseitigen Sympathie, der Kühle, die ihn im Sommer umfing, und der Wärme, die ihn im Winter bedeckte.

Er liebte sie mehr, als er seine Mutter je geliebt hatte. Sie war der Schoß und das Haus und die Schattenspenderin und die Familie und alles, was ihm im Leben etwas bedeutete.

Er wußte nicht, wie viel Zeit vergangen war, ein Jahr oder zehn. Die Zeit war für ihn in jenem Moment stehen geblieben, als er die Mangrove gefunden hatte und als auch in ihren Ästen und Zweigen das Leben von neuem zu fließen begann und jedes vertrocknete oder verholzte Stück an ihr wieder ergrünte. Und obwohl er inzwischen erfolgreich ein Handwerk ergriffen hatte und als Bursche in einer Auto-Lackiererei arbeitete, ja sogar dafür bezahlt wurde, so konnte er sich dennoch von ihr nicht trennen, ihren Schoß nicht verlassen.

Aber nach und nach begann er zu spüren, daß der Ort immer enger für ihn wurde. Unbemerkt war er gewachsen und mit ihm auch seine Arme und Beine, bis der Tag kam, an dem er es nicht mehr schaffte, sich in sie hineinzuzwängen.

So ist die Welt nun einmal, er wurde eines Tages gezwungen, die persönlichen Dinge, die er in den Windungen ihres Innern versteckt hatte, einzusammeln und sich von jenem Käfig zu verabschieden, der auch innwendig schon ganz grün geworden war. Er ging und teilte sich mit seinem Freund und Arbeitskameraden aus der Werkstatt dessen Zimmer auf dem Dach, welches dieser bisher alleine bewohnt hatte.

Viele Nächte verbrachte er, ohne zu wissen, wie er auf einer Matratze schlafen sollte, er, der er sich doch an ihren lebendigen Schoß gewöhnt hatte und an seine Haltung eines Ungeborenen, die angenehmste da in ihrem Innern.

Doch die Tage vergingen, und er gewöhnte sich an das Schlafen auf der Matratze. Er näherte sich der Pubertät, er erreichte sie. Die ermüdende Arbeit beschäftigte ihn tagsüber, die Nächte waren voll Feiern mit seinen Freunden und ihrer Clique, bis er die Mangrove vergessen hatte, bis er sogar die ganze Straße vergaß und mit seiner Arbeit und seinem Wohnort nach Schubra umzog.

Doch eines Tages schickt ihn sein Meister zu einer Besorgung nach Famm el-Khalij.

Und plötzlich sieht er sich selbst am Ende der Kasr-el-Aini Straße vom Bus abspringen und zu ihr hinrennen. Da steht er nun schwer atmend vor ihr und blickt sie an.

Ihre früher so grünen Blätter sind alle verwelkt und die alten und neuen Zweige verholzt und vertrocknet. Ihre pflanzliche Tür ist nicht mehr zu finden.

Als ob sie gestorben sei.

Es zieht ihm die Brust zusammen, wie kurz vor dem Weinen.

Dann heult er los.

Seine Mutter.




Anmerkung zum Namen des Baumes:

"Umm el Schu'ur" bedeutet soviel wie "Mutter der Haare", weil der stammlose Baum auf Luftwurzeln steht, die wie dicke Haare aussehen. Der Begriff ist nur in bestimmten Regionen des Nil-Tales zu finden und bezeichnet eine dort heimische Mangrovenart. Das "Umm" kann auch die Bedeutung einer Zugehörigkeit haben ("Die mit den Haaren"). Und das "Schu'ur" hat neben den "Haaren" auch die Bedeutung "Gefühl/Empfindung".


Erschienen in: "Gesteht’s! Die Dichter des Orients sind größer...", eine Auswahl zeitgenössischer arabischer Lyrik und Prosa

Hrsg.: Haus der Kulturen der Welt (Vorabdruck), Berlin 1990; später erschienen in dieser Serie 4 Bände, Verlag Das Arabische Buch, Berlin 1991


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