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Herbert Marcuse und die Kritik der Industriegesellschaft

Dies war einer meiner Prüfungstexte bei der ‘Staatsprüfung für Übersetzer Deutsch/Arabisch’ 1981 in Berlin - und gleichzeitig meine bisher einzige Beschäftigung mit Marcuse. Als Hippie hatte ich es damals wirklich nicht mit der 'grauen Theorie'. Aber gelernt habe ich hiervon ganz bestimmt etwas (allerdings weiß ich heute nicht mehr was, ...sorry Herbert!)


Herbert Marcuse und die Kritik der Industriegesellschaft

von Hussein Dannaui

Übersetzt aus dem Arabischen von Achmed Khammas


Der zweiundsiebzigjährige Herbert Marcuse, der im Staat Kalifornien in den Vereinigten Staaten von Amerika lebte, war ein Philosoph und Universitätsprofessor und seit vielen Jahren in philosophischen Kreisen gut bekannt. Seine Schriften jedoch, in denen er mit seinen Gedanken und Meinungen die jungen deutschen Generationen genährt hatte, hatten ihn aber nicht über den geistigen und philosophischen Bereich hinaus berühmt gemacht.

Die Ereignisse jedoch, welche im Jahre 1968 über Frankreich hinweg stürmten, und während derer der Name des Philosophen unter den Studenten und Jugendlichen, die diese Ereignisse heraufbeschworen, wieder und wieder zu hören war, ließen den Namen Marcuse in die vorderste Reihe gelangen, so daß seine Schriften übersetzt und aufs umfangreichste in einer großen Zahl von Ländern veröffentlicht wurden. Die Presse interessierte sich für seine Gedanken und richtete ihre Lichtblitze auf ihn, was half, wenn auch nur oberflächlich, die Gedankentiefe der Studenten- und Jugendbewegungen kennenzulernen.

Herbert Marcuse wurde 1898 in Berlin geboren, in einer Familie, die sich durch ein hohes kulturelles Niveau auszeichnete. Als nun die deutsche Revolution ausbrach, kämpfte Marcuse in den Reihen der Sozialdemokratischen Partei, er war damals nicht älter als zwanzig Jahre. Im Jahre 1919 verließ er jedoch die Partei aufgrund des Mordes an Rosa Luxemburg.

Vor Ende der 30er Jahre übernahm er - unter Wahrung seiner Unabhängigkeit von der Partei - die Edition der philosophischen Themen in der theoretischen Zeitschrift, welche von den Sozial-Demokraten in Deutschland herausgegeben wurde. Nachdem sich die allgemeine Lage in Deutschland mehr und mehr zugespitzt hatte, verließ er Berlin in Richtung Süddeutschland, wo er sich der Vorbereitung seiner philosophischen Dissertation über Hegel widmete. Der Mißerfolg der deutschen Revolution hinterließ eine tiefgehende Wirkung in Herbert Marcuse, welcher es nun, wie auch seinesgleichen, vorzog, von jeder praktischen politischen Aktivität Abstand zu nehmen. Dies verhinderte jedoch nicht, daß er schon damals zusammen mit Georg Lukas und Karl Kusch (Anm.: phon. a. d. Arab.) als Leiter einer Denkerschule herausragte, die später von einigen Marxismus-Experten als die 'Schule der europäischen marxistischen Dialektik' bezeichnet wurde.

Es scheint, als hätte die Situation in der jungen Sowjetunion nach dem Tode Lenins bei Herbert Marcuse Enttäuschung hervorgerufen, so daß er es vorzog, auf die Opferung seiner Gedankenfreiheit zugunsten der, von den verantwortlichen Sowjets damals proklamierten Produktionszwänge zu verzichten, und (statt dessen) sein Interesse auf den Versuch richtete, die deutsche Sozialdemokratische Partei zu reorganisieren. Er kämpfte darum, die große revolutionäre Partei Europas aus den Klauen der Erstarrung zu erretten.

Während eben jener Zeit versuchte Wilhelm Reich - einer der Schüler Freuds und 'linksgerichteter Kommunist ' - eine Brücke herzustellen zwischen der 'sexuellen Befreiung', einer der Ausgangspositionen der Psychoanalyse, und dem revolutionären Marxismus..., ein Versuch, der zu Marcuses Denken bezüglich jenes Bereiches seinen Teil beitrug.

Die Beschäftigung mit der sexuellen Unterdrückung führte den deutschen Philosophen zum Zusammentreffen mit einem weiteren Akademiker, nämlich mit 'Theodor Adorno', dessen philosophische Entwicklung parallel zur Richtung Marcuses verlief. An der Universität Frankfurt führten die beiden Denker Studien zur 'Untersuchung der Herrschaft der Familie' durch und veröffentlichten die Resultate ihrer Bemühungen 1936 in Paris. So waren ihre Meinungen der Ausgangspunkt für jene Untersuchungen, die sich mit der 'Despotischen Person' beschäftigten und die von ihnen beiden, nach ihrer später erfolgten Reise in die Vereinigten Staaten, ebendort durchgeführt wurden.

Mit der Machtergreifung des Hitlertums zogen es Marcuse und Adorno vor, den universitären Lehrberuf zu ergreifen und reisten zunächst in die Schweiz, dann nach Paris. Dort entwickelte sich die Ausbildungsstätte für Hochschullehrer zu einem Zentrum des Frankfurter Instituts und dessen Zeitschrift, die von den beiden deutschen Denkern unter Mitarbeit von Rayrnond Aaron, Georg Friedmann u.a. herausgegeben wurde.

Mit Beginn des Jahres 1934 fing Marcuse an, von Zeit zu Zeit an der Columbia-Universität zu lehren, wo er sich 1937 auch endgültig niederließ. Adorno und die restlichen Mitarbeiter, die mit ihm am Institut gelehrt hatten, folgten ihm dorthin.

Es zeigte sich, daß es dem deutschen Denker und seinen Freunden - die zusammen die Strömung der Frankfurter Philosophischen 'Schule' darstellten - gelang, in den ersten Jahren ihres Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten zwischen ihnen und der amerikanischen Gesellschaft einige positive Beziehungen aufzubauen. Diese verkörperten sich in der - vor dem zweiten Weltkrieg erfolgten - Zusammenarbeit Marcuses und aller 'linksgerichteten' Amerikaner mit dem 'Büro für strategische Dienste'. Nach Kriegsende war Marcuse über lange Jahre an dem auf Russland spezialisierten Forschungsinstitut der Universität Harvard tätig, wobei seine dortige Tätigkeit mit dem Verfassen eines Buches über den 'Sowjetischen Marxismus' ihre Krönung fand. In der Zeit von 1945 bis 1965 kristallisierte sich denn auch seine, der 'Industriegesellschaft' grundsätzlich widersprechende Theorie heraus. Bis zu diesem Zeitpunkt war Marcuse als ein Philosoph bekannt, dessen Bemühungen sich auf Hegel konzentrierten; doch zeichnete sich dieser Zeitraum seines Lebens auch durch eine verdichtete geistige Aktivität aus, während der er das Buch 'Triebstruktur und Gesellschaft' veröffentlichte, gefolgt von einem weiteren Buche, wobei er beiden seine philosophische Kritik der amerikanischen Gesellschaft zugrunde legte. Beide Bücher riefen ein ungeheures Echo in den Reihen der deutschen, italienischen und französischen Studentenschaft hervor, welche seine Gedanken aufgriff und voll Begeisterung zu eigen machte. Dadurch entfachten seine Ansichten die Feuer an den europäischen Universitäten.

Was besonders an den deutschen Universitäten zur Verbreitung seines Gedankengutes beitrug, war jene Spaltung, die zwischen dem 'Sozialistischen Deutschen Studentenbund' und der Sozialdemokratischen Partei erfolgt war. Erstere fanden in der Philosophie Marcuses endlich den Gegenstand ihrer beharrlichen Suche, nachdem sie durch diese Suche nach einem deutschen Sozialismus, der frei war von der 'Haltung der Resignation', wie auch weit weg war sowohl vom kleinbürgerlichen Denken, das die Sozialdemokraten beherrschte, als auch vom 'Russischen Stalinismus', dessen System in der Deutschen Demokratischen Republik herrschte, schon fast erschöpft waren.

Denn Marcuse entstammte dem marxistischen Denken, erlangte dessen Erziehung und praktizierte es auch, und obwohl er sich in seinen Schriften nicht allzu weitläufig über den Marxismus ausließ, so war dieser dennoch der politische Hintergrund zu alledem, was er schrieb. Trotzdem bedeutete dies nicht, daß die Resultate seiner von ihm selbst durchgeführten Studien mit dem philosophischen marxistischen Denken übereinstimmten. Er erklärte sogar an vielen Stellen seiner Schriften seine Unabhängigkeit vom marxistischen Denken und kritisierte es mit dem Ziel, es zu überschreiten.

Was waren die wichtigsten Gedanken, welche die zentralen Angelpunkte in Marcuses Schriften bildeten? Und welcher Art war die Kritik, die er der Industriegesellschaft entgegenhielt, jene Kritik, welche die Jugend Europas und später auch Amerikas zu ihm hinzog, bis er - der Meinung der überwiegenden Anzahl der Presseorgane zufolge - gar zu den Inspiratoren des zeitgenössischen revolutionären Denkens und der Jugendbewegungen gehörte?

Die zeitgenössische Gesellschaft, auf die sich Marcuses Untersuchung richtet, ist die post-industrielle Gesellschaft, ein Begriff, mit dem die Gesellschaft Amerikas und Schwedens bezeichnet wird. Eine Gesellschaft, die bei der Bestimmung ihres Schicksals der Technologie die erste und wichtigste Rolle gab.

Was ist Technologie? Der Definition nach ist sie die Wissenschaft der Umwandlung von Dingen (Dingen der Natur) in der Kontrolle unterliegende Instrumente, mit dem Ziel ihrer Ausnutzung zu gesellschaftlichen und kulturellen Zwecken. Die Technologie ist die Kunst einer Kriegführung gegen die Natur und die Überwindung ihres stummen Widerstandes. Die Technologie wurde die weltweite Form materieller Produktion, ihr Einfluß weitete sich aus und umfaßte alle Lebensbereiche.

Es gibt noch ein weiteres grundsätzliches Charakteristikum dieser Gesellschaft, nämlich das Kennzeichen des modernen Managements, welches einen sehr großen Einfluß auf die Form und die Entwicklung der zeitgenössischen Gesellschaft besitzt...

McNamara, der Verteidigungsminister der Johnson-Regierung, erklärte während der Jackson-Konferenz (Mississippi):

"Der Begriff 'Technologische Lücke' ist selber aber nicht sehr exakt. Es ist weniger die Sache einer technologischen Lücke, als die einer Lücke im Management, also einer Lücke in der Führung. Wenn nun eine Anzahl europäischer Wissenschaftler in die Vereinigten Staaten auswandern, so geht das im Kern nicht darauf zurück, daß wir eine weiter fortgeschrittene Technologie haben, sondern insbesondere darauf, daß wir moderne und wirkungsvolle Methoden zur gemeinschaftlichen Arbeit sowie Managementmethoden besitzen."

Er fährt fort: "Und das Management ist am Ende der Betrachtung die schöpferischste aller Künste, es ist die Kunst der Künste, weil es jene Kunst ist, die auf die Lenkung des Talents spezialisiert ist. Worin besteht die wichtigste Rolle des Managements? Darin, Veränderungen verständnisvoll zu begegnen. Das Management ist eine Methode, mittels derer sich gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Veränderungen, wie auch alle menschlichen Veränderungen rational ordnen und im gesamtgesellschaftlichen Körper verallgemeinern können."

Die Technologie und die Managementmethoden sind also die beiden sichtbaren Kennzeichen der zeitgenössischen entwickelten Gesellschaft. Und auf diese beiden Pole richtete sich die tiefgehende Analyse, die Marcuse in seinem Buch 'Der eindimensionale Mensch' und in seinen anderen Büchern vollzog, welche er im Rahmen der Gesellschaftskritik veröffentlichte.

Marcuse antwortet auf die Behauptungen McNamaras in dessen Bericht an die Jackson-Konferenz, daß die zeitgenössische Gesellschaft eine vernünftige Gesellschaft ist, indem er diese Hypothese zurückweist und nachdrücklich darauf besteht, daß die Vernunft der zeitgenössischen Gesellschaft, ihre Entwicklung und ihr Fortschritt im Grunde unvernünftig sind. Er fügt hinzu, daß die zeitgenössische Industriegesellschaft aufgrund ihrer, auf der Technologie aufbauenden Ordnung, zu einer Einstellung des absoluten Despotismus neigt. Und die Tendenz zum absoluten Despotismus existiert nicht nur in einer bedrohlichen politischen Form, sondern auch in einer nicht-bedrohlichen wirtschaftlich-technischen Form, welche ihre Funktion dadurch erfüllt, daß sie die Bedürfnisse im Namen eines falschen öffentlichen Interesses steuert, wobei unter diesen Umständen eine wirkungsvolle Opposition gegenüber dem System nicht entstehen kann.

Die äußeren politischen Erscheinungen der derzeitigen technologischen Vernunft sind die, daß der Produktionsapparat, die Waren und die Dienstleistungen, die er hervorbringt, die Gesellschaftsordnung 'verkaufen' oder aufzwingen, und zwar weil sie zentralistischer Natur sind. Die Transportsysteme, die Systeme der öffentlichen Kommunikation, die Erleichterungen der Wohnsituation, die Nahrung, die Kleidung und die expandierende Freizeit- und Medienindustrie... all das verpflichtet zu aufgezwungenen Standpunkten und Verhaltensweisen, wie auch zu bestimmten intellektuellen und gefühlsmäßigen Reaktionen, welche die Verbraucher auf die eine oder andere Art in anregender Form an die Produzenten binden, und damit dann auch an die Gesellschaft. Die Produkte beeinflussen die Meinungen der Menschen, zerreißen sie und bilden ein falsches Bewußtsein heraus, welches gegenüber der darin haftenden Falschheit auch noch gefühllos ist.

Das lügenhafte gefälschte Bewußtsein, das zur menschlichen Bedingung geworden ist, ist aus der herrschenden Produktionskraft heraus geboren; und so sind Wohlstand, Effizienz und Freie Marktwirtschaft im Rahmen der Demokratie die Kennzeichen der industriellen Zivilisation und die Zeugen der technischen Entwicklung. Und selbstverständlich verschleiert und verwischt die Fähigkeit der Zivilisation zur Deckung und Sicherung der Grundbedürfnisse oder der erfundenen und gefälschten Bedürfnisse zugunsten des Marktes jene Voraussetzungen, auf denen diese Zivilisation aufbaut, so daß der Mensch in den Abgründen des Fortschritts zugeschüttet wird und dadurch auch unfähig wird, oder es als nicht mehr notwendig empfindet, nach jenen Voraussetzungen zu fragen.

Aus: Dirasat ‘Arabiah Band 8,3 (o.J.), S. 25 ff.


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