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Das Wappen der Familie Khammas

Der Wettbewerb

Der Messias ist erschienen. Der Messias? Nein - die Messiasse! Denn plötzlich tauchen in aller Herren Länder Personen auf, die eben dies von sich behaupten. Die Menschheit zu erlösen. Völlig unfanatisch, aber sehr bestimmt. Und sie haben alle etwas gemeinsam: sie belegen ihren Anspruch mit einer Erlösungsmaschine, die den Wissenschaftlern offiziell Hohngelächter entlockt, aber insgeheim nicht schlafen läßt. Das kann so nicht weitergehen, eine (End-)Lösung muß her. Der Auftrag geht an die Medienbosse: macht eine Show daraus! Doch ganz so einfach läßt sich die Göttin nicht übers Ohr hauen...




Der Wettbewerb

von Ghassan Homsi



HINWEIS: Bericht nur über zuverlässigen Handkurier weitergeben!

Liebe Schwestern, liebe Brüder,

im nun schon siebten Jahr nach dem uns alle betreffenden tragischen Ereignis erreichen uns hier im Odenwald mehr und mehr Briefe und Nachrichten von und über euch. Erlaubt mir daher, euch zu berichten, was meinen Kenntnissen zufolge damals geschehen ist und wie es uns seitdem erging - denn allzu oft tauchen diese Fragen in Euren Schreiben auf. Auch wird meistens nach unseren arabischen Freunden gefragt; so werde ich denn mit ihnen beginnen:

Ihr erinnert Euch sicherlich noch daran, daß es Achmed und seine Freunde im Laufe der Jahre und mit viel Mühe geschafft hatten, mit ihrem syrischen Maschinen-Messias bekannt zu werden. Immerhin beschäftigten sich damals bereits das Kanadische Energieministerium und das ‘International Center for Strategic Studies’ ernsthaft mit der ‘Messias-Maschine’, und sogar der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte „herzlich gedankt" für die Übermittlung der Verkündigung aus dem Orient.

So vielversprechend die Lage auch wirkte, gemacht wurde letztendlich nichts - da tauchten auf einmal erschreckend synchron aus den unterschiedlichsten Ecken und Enden der Welt kommende Gerüchte auf, deren Inhalt in allen Fällen identisch war. Ob von den Fidji-lnseln oder vom Bosporus, aus einem Vorort Washingtons oder aus der Mandschurei - allen Gerüchten war gemeinsam, daß dort - wo immer das auch war - ein Mann (unterschiedlichster Rasse und Herkunft) behaupten würde, der langerwartete und langersehnte Messias zu sein. Und daß er eine Maschine hätte, von der er behaupten würde, sie könne uns das Paradies erbauen. Also haargenau dasselbe, was uns unsere Freunde aus Syrien erzählt hatten! Über das Wundermaschinchen selbst ist damals ja viel berichtet worden, so daß sich eine Wiederholung an dieser Stelle erübrigt. Kehren wir lieber zu unseren Freunden und zu dem WETTBEWERB zurück.

Daß alle diese Gerüchte stark beunruhigend auf sie wirkten, dürfte wohl einem jedem klar sein, der zuvor schon über das „Projekt Messias" gehört hatte. Immerhin hatten Achmed und seine Freunde im Laufe der Zeit viele Arbeitsstunden und auch Geld in ihren Maschinen-Messias investiert, und es gefiel ihnen keineswegs, daß nun eventuell ein anderer das Rennen machen würde. Daß es sich bei den vielen Messiassen bzw. bei ihren so großen Erfolg versprechenden Geräten wohl immer um das gleiche Prinzip handeln würde, dem schon die ‘Muttermaschine’ des syrischen Messias zugrunde lag, ließ sich aus den zum Teil recht verworrenen und verdrehten Gerüchten trotz alledem leicht entnehmen. Denn irgendwann im Verlaufe der Erzählung begann nämlich der Berichtende (immer!) mit dem Arm eine weitausholende Spirale in die Luft zu zeichnen (manchmal mit offener Hand, mal mit ausgestrecktem Zeigefinger, usw.), welche sich weiter verjüngend langsam nach oben schraubt. Eine klare Darstellung des Wasser-Hinauf-Wirbels, dem Geheimnis im Kern der MASCHINE!

Nun ja. Ihr erinnert Euch sicher auch noch daran, daß es dank einiger interessierter Förderer, die es jetzt, nach dem so tragischen Ausgang des WETTBEWERBS, vorziehen nicht genannt zu werden... dank der UNO, beziehungsweise den Herren, die damals in New York gerade Schicht hatten... dank den Medien, die ein Ende der Saure-Gurken-Zeit witterten (und dafür dann selbst in eine äußerst saure Gurke beißen mußten)... und dank des Roten Kreuzes, welches die notwendige Infrastruktur samt hochentwickelten Gulaschkanonen und mobilen Klosetts zur Verfügung stellte, gelang, alle Messiasse derer man habhaft werden konnte, auf neutralem Schweizer Grund und Boden zu versammeln. Samt Jüngern, Familien und/oder Managern.

In unserem Fall ließ der Maschinen-Messias alle seine Jünger und Familienmitglieder in Syrien zurück, und nur Achmed flog mit ihm gen Westen. Letzterer war dort aufgewachsen, kannte sich aus und hatte gute Kontakte. Der Flug ging erst einmal nach Berlin, wo dem Drill noch etwas nachgeholfen wurde, indem der Messias unter Achmeds stadtkundiger Führung und der Hilfe einiger unerschrockener Berliner Freaks hintereinanderweg und ohne nennenswerte Unterbrechungen zuerst in die Philharmonie (Wagner!), dann in das ‘Sound’, und zuletzt in eine berüchtigte Punk-Kneipe geschleppt wurde. Um Mitternacht fuhr man nach Ostberlin, um die 24-Stunden Visas voll auszunutzen. Leider wurde die gesamte Truppe kurz darauf wieder herausgeschmissen, da der Maschinen-Messias mit seinen Bekehrungsversuchen am Alex ausgerechnet bei zwei Herren und einem Funkgerät von der ‘Stasi’ landete. Zurück mit der U-Bahn ging es anschließend in eine Peep-Show (aus der der Messias diesmal von allein das Weite suchte) und in eine, für ihren exellenten Service berühmte Sauna. Am nächsten Tag reiste man weiter nach Basel, wo das internationale Treffen aller konkurrierenden Messiasse vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattfinden sollte. Da ich als Berichterstatter des ‘Gemeinen Ketzers’ zu jener denkwürdigen Zeit ebenfalls in Basel weilte, holte ich die beiden vom Flugplatz ab. Was Anlaß genug war, unser Friedenskalumet zu erneuern.

Was nun im Detail zur Vorbereitung dieses globalen WETTBEWERBS, der ‘Beschaffung’ der ganzen Horden an Messiassen, dem erstmaligen wirklichen Zusammenschluß aller (!) Fernsehnetze (weit über das hinaus, was damals in der Stimme der Beatles und ihrem ‘All you need is Love’ mitschwang), dem ganzen organisatorischen Teil usw. usf. notwendig war und auch realisiert wurde, kennt ihr ja. Auch in Grundzügen alle jene Namen, Geschicke, Stationen, Visionen und Behauptungen der einzelnen Messiasse. Doch dann begann der WETTBEWERB, und Ihr mußtet schon wirklich einen sehr seltsamen TV-Empfänger haben, wenn ihr den tatsächlichen Schluß dieser endgültigsten aller Vorstellungen habt sehen können!

Ich füge Euch hier das Gedächtnisprotokoll an, welches mir Achmed vor einiger Zeit zugesandt hat. Nach seiner und des Messias glücklicher Rückkehr nach Syrien waren sie zuerst einmal damit beschäftigt, eine ehemalige Assassinen-Burg instandzubesetzen, welche sie nun zusammen mit ihren Familien und Jüngern bewohnen. Da ein entferntes Familienmitglied schon früh genug auf die Gesamttendenz der politischen und gesellschaftlichen Ent- oder besser Mißwicklung aufmerksam geworden war, hatte es im mehreren versteckten Lagern große Mengen an Fensterglas, Folien, Kupferblechen und -röhren gehortet, aus denen nun Solarkollektoren gebaut und verkauft werden. In seinem letzten Brief schrieb uns Achmed, daß sie sich damit sicherlich so lange über Wasser halten können, bis die ersten Hanfernten eingebracht, verarbeitet und versandt sind.

An dieser Stelle, liebe Schwestern und Brüder, möchte ich euch vorab schon darüber informieren, daß wir über unsere Freunde in Amsterdam bald - in etwa 4 oder 5 Monaten - eine gewisse Menge dieses nahöstlichen Produkts anbieten können, denn Dirk ist mit seiner Mannschaft schon aufgebrochen, und ihr kleiner Segelfrachter ist wegen seiner Geschwindigkeit ja weit berüchtigt...

Doch laßt uns nun auf Achmeds Protokoll zurückkommen:


„An den Beginn und ersten Verlauf des WETTBEWERBS kann ich mich nicht mehr gut erinnern. Klar, jede Menge Würdenträger und Reporter, ganze Heerscharen davon! Dagegen erschienen die gut 650 Messiasse fast schon als kleiner Haufen. Vielleicht war dieser Eindruck auch bezweckt worden, wer weiß. Beethovens Neunte (mit der über ein berühmtes Medium endlich diktierten Vollendung), süße kleine Mädchen mit glänzenden Augen und riesigen Blumensträußen, Streit um die ersten Sitze usw. usf.

Zusammen mit Abu Mohammad, unserem Messias, hatte ich noch einmal einen Bummel durch Basel gemacht - dann waren wir zu der neuerbauten Stadthalle gepilgert und durch den Hintereingang in den großen Saal gehuscht. Aus dem Hintergrund beobachtete ich die Blicke, die die geladenen Teilnehmer des WETTBEWERBS untereinander austauschten, immerhin war ein jeder von ihnen der felsenfesten Oberzeugung, er und nur ER würde der ‘Auserwählte Erlöser’ sein, dem die Massen dann folgen und zujubeln würden.

Da hie und da noch ein letzter Nachzügler kam, ließ ich meinen Maschinen-Messias an der Treppe zu den Sitzreihen noch etwas warten. Als endlich der Platz Nummer 665 besetzt wurde, brachte ich ihn auf Trab, so daß er den drauffolgenden Platz bekam. Ein gutes Omen, dachte ich mir, auch wenn ich etwas nachgeholfen hatte.

Der große Saal war voll. Alle sehr aufgeregt, fast sämtlichen Begleitern und Managern stand der Zweifel im Gesicht geschrieben, und nur einige wenige Messiasse blickten nicht finster drein. Dann ging es los!

Die Medienbosse hatten ganze Arbeit geleistet. Die Milliarden saßen von Flimmerkistenbildern bezaubert in ihren Palästen, Häusern, Zimmern, Buden, Baracken, in Kinosälen und in Stadien, wo mit TV-Beamern und riesigen Leinwänden gearbeitet wurde. In aller Herren Länder, überall auf dem Planeten. Das weltumspannende McLuhan'sche elektrische Nervensystem aus Kabelsträngen und Funkwellen vibrierte hektisch - und auf allen Bildschirmen war ein sich schneller und schneller drehender Wasserwirbel zu sehen, der dem Beobachter gleichsam entgegenkam, nur um dann mit einem großen Tusch zu dem Gesicht des Ansagers und Conferenciers zu zerfallen.

Die restlichen Milliarden, alle jene, die außerhalb dieses planetarischen Netzwerks geradezu dahinvegetieren, waren in diesen schicksalhaften Minuten und Stunden zu reinen Fleischklumpen, zu Protoplasma ohne (elektronisch erleuchtetes) Bewußtsein reduziert und degradiert. Die Macher aber, die Beweger und auch die Verzehrer, sie alle sahen zu, waren Nerven, Ganglien, Befehlsübermittler und Entscheidungsträger. Auf ihren Feedback-lmpuls würde es letztlich ankommen, um ein für allemal festzustellen, wer aus diesen Hundertschaften miteinander konkurrierender Maschinen-Messiasse jetzt und für alle Zeit als der wiedererschienene Erlöser gefeiert werden würde, wer auf Lebenszeit den extra dafür neuerschaffenen (und von allen Weltreligionen gemeinsam finanzierten) Platz des ersten Ehrenvorsitzenden der UNO übernehmen würde, und wer - was nicht das Unwichtigste ist - die wahren Berge von Werbegeschenken einheimsen würde, welche seitens Abertausender von Firmen für diese globale Medienwallfahrt, für dieses Jüngste TV-Gericht spendiert worden waren. Und wie gesagt, die Medienbosse hatten ganze Arbeit geleistet. Der Ablauf sah so aus: Jeder Messias bekam eine einzige Minute zur Verfügung gestellt. Sechzig Sekunden lang würde er durch die Linsen der TV-Kameras fokussiert gleichzeitig in allen Wohnungen zu Hause sein, würde er in allen Ländern elektronisch simulierte Anwesenheit induzieren, simultangedolmetscht und farbig. In den USA und in Japan sogar im ultramodernen 3-D-Holographieverfahren.

Die ersten Maschinen-Messiasse waren enttäuschend. Doch dies änderte sich schlagartig, als Messias Nr. 17 (aus Finnland) aufgerufen wurde. Ein blonder Hüne schritt stolz und nackt auf das Podium. Er stellte sich direkt vor die mittlere Kamera, sah lange hinein und begann seinen Spruch von der all-erlösenden Füllhorn-Maschine. Die Minute raste. Aus mehreren katholischen Ländern - und aus Persien - wurden Zensurmeldungen empfangen, die auf den überall im Saal aufgestellten Monitoren in roter Schrift erschienen. Als der Nackte noch etwa zehn Sekunden hatte, sagte er mit seiner tiefen Stimme: ‘lch habe nichts zu verbergen’. Dann kehrte er zu seinem Platz zurück. Doch selbst dieser Überraschungseffekt verblaßte. Insgesamt waren es mindestens zwanzig Unbekleidete, die im Saal auf ihren Auftritt warteten, wie sich mit der Zeit herausstellte.

Und so - oder ähnlich - ging es weiter. Der WETTBEWERB hatte am Sonnabendnachmittag um 17.00 Lokalzeit begonnen und würde sicherlich mehr als dreizehn Stunden lang laufen. Ich schaute nach meinem Messias, und siehe da, gemütlich schlummerte er auf dem bequemen Sitz. Seltsamerweise saß ihm zur Seite kein weiterer mehr, es schien also, als würde er wirklich mit seiner Endzeitnummer als ‘letzter’ aufgerufen werden. Die Leitung des WETTBEWERBS hatte vorher bewußt darauf verzichtet, eine Prognose über die zu erwartende Teilnehmerzahl anzustellen, denn zu viele bereits angemeldete Teilnehmer hatten im letzten Moment abgesagt oder waren aus den unterschiedlichsten Gründen dazu motiviert worden, doch nicht am WETTBEWERB teilzunehmen. Und umgekehrt. Fast gleichviele meldeten sich dennoch an oder wurden gar erst wenige Tage vor dem WETTBEWERB ‘entdeckt’.

Die Veranstaltung zog sich länger hin, als ursprünglich geplant. Es wurde ein ermüdender Marathon für alle. Doch langsam lichteten sich die Reihen. Viele der bereits vorgestellten Messiasse zogen es vor, in ihren Hotels auf das Ergebnis des WETTBEWERBS zu warten. Auch ich entfernte mich von der Begleitertribüne, auf der ich, eingekeilt zwischen einer dicken afrikanischen 'Mummy’ und einem griesgrämigen Mongolen, ausgeharrt hatte und legte mich etwas aufs Ohr. Als ich später wieder in den Saal schaute, schlummerte mein Messias immer noch (er sagte mir später, er hätte bei allen Kandidaten wirklich höchst intensiv der Übertragung gelauscht. Wobei ich hier meinen Zweifel anmelden möchte - ich kenne ihn zu gut), und der Maschinen-Messias Nr. 235 erzählte gerade etwas mir nicht ganz Verständliches von einer Regenbogenhaut, die dem Menschen das ewige Leben schenken würde. Ein anderer gab ein Abführrezept zum besten - ich war gezwungen, ihm gute Chancen einzuräumen. Mit meinem Messias hatte ich im Vorfeld nicht über seine Minute geredet, ich hatte das Gefühl, daß sich so etwas für mich als ‘messianisch-besessenen’ Verkünder einfach nicht schicken würde.

Und während wir zwei lästernd über die anderen Messiasse herzogen, ging der WETTBEWERB flott weiter... Nummer 456 stand zum Beispiel ganz stumm da (es war der einzige Moment, in dem der Saal für eine ganz kurze Zeit völlig still war), und sein Manager nutzte die letzten 10 Sekunden für die Erklärung, daß sein Schützling seine Verkündung telepathisch versandt hätte. Im ganzen ging es aber sehr nüchtern zu, um nicht zu sagen: phantasielos. Erst der Messias Nr. 609 brachte wieder etwas Bewegung in den Saal, als er - von sieben wunderhübschen und aufreizend mit Strapsen und Ledergeschirr bekleideten jungen Hermaphroditen auf einer runden Sänfte getragen - das Podium erreichte und voll in die Kamera pinkelte. Dies verzögerte dann allerdings den Fortgang des WETTBEWERBS, und mein Maschinen-Messias und ich nutzten die entstandene Pause um ein kräftiges Frühstück zu uns zu nehmen. Auf der Bühne erscholl immer noch das wütende Fluchen des Kameramannes, der nicht nur naß geworden war, sondern auch noch einen kräftigen elektrischen Schlag bekommen hatte. Erst als die Jury, der auch der Papst angehörte, geschlossen auf ihn einredete, dämpfte sich sein Schimpfgebrüll gegen 'alle Messiasse des Universums’ (wie er sich ausdrückte). Als wir in den Saal zurückkamen war schon der Messias Nr. 654 vorn. Er redete Aramäisch.

An die letzten paar Messiasse vor unserem - neben ihm war immer noch frei, so daß ich mich einfach zu ihm setzte - erinnere ich mich besonders gut. Nur schienen mir die Minuten immer länger zu werden - bis ein neuer auf dem Podium stand, vergingen Ewigkeiten, so kam es mir vor. Dann war es soweit. Plötzlich erscholl die Nummer. Viele blickten in unsere Richtung, und vielleicht dachten einige, ich sei auch ein Teilnehmer. Abou Mohammad schaute mich an, und mir stieg ein Kloß im Hals hinauf. Ich versuchte mutig zu nicken, und der Maschinen-Messias bewegte sich in Richtung Podium und der Kloß im Hals langsam wieder herunter. Was dann kam, dürfte sich wohl für alle Zeit in mein Bewußtsein eingemeißelt haben - ihr kennt es ja alle."


Ich weiß, liebe Schwestern und Brüder, daß Achmed in seinem Bericht nichts gebracht hat, was euch im Grunde unbekannt gewesen wäre - doch wollte ich mit seiner lebendigen Schilderung jene einmalige Situation in eurer Erinnerung wiedererwecken, welche uns unsere neue Welt beschert hat. Man kann sagen, daß der ganze WETTBEWERB wie geplant und ohne größere Unterbrechungen oder Schwierigkeiten ablief. Bis dann unser syrischer Messias vor der Kamera stand und so scharf hineinblickte, daß zuerst die Monitoren schlagartig ausfielen, dann die Kameras - ich hörte das laute Fluchen der Techniker selbst von meinem entfernten Platz aus -, dann die Saalbeleuchtung und nach und nach jedes elektrische oder elektronische Gerät im gesamten Funkhaus, in ganz Basel, in der Schweiz, auf der ganzen Welt.

Doch davon erfuhr ich erst später, denn damals dachte ja jeder, der ‘Stromausfall’ sei nur ein begrenztes lokales Phänomen. Auf jeden Fall schafften es Achmed und der Maschinen-Messias gerade noch so, dem einsetzenden Armageddon durch einen Seitenausgang zu entwischen. In den Verlagsräumen des Sphinx-Magazins trafen wir uns wieder. Dr. Hofmann hockte auch dort und spekulierte mit Bretschi und Hagenbach wie wild quer durch alle Paralleluniversen und Zeitkrümmungen hinweg über den quantenmechanischen Grund für den erschreckenden neuen Sachverhalt. Sergius Golowin, der etwas später erschien, berichtete triumphierend, daß sein Kompaß weiterhin nach Norden zeigte und daß ein Plastikkamm - etwas mit einem Wollfetzen gerieben - auch immer noch Papierfetzen anziehen würde. Während die anderen Achmed und den Messias eher aufmunternd anblickten (wahrscheinlich dachten sie, daß sich unsere Freunde in Gewissensbissen wanden), grummelte Golowin finster etwas von einer neuen Plasma-Lautsprecher-Anlage, die er erst vor einigen Tagen erstanden hatte und die er ja wohl nun wegschmeißen könne.

Doch will ich dieses Informationsschreiben nicht noch länger werden lassen. Dank unserer Freunde in Basel und überall in der Schweiz und in Deutschland gelangten Achmed und der Messias - ich bin inzwischen sicher, eine Abstimmung hätte ihm eine große Mehrheit beschert - zuerst wieder nach Berlin, wo sie Zeugen der großen Mauersprengung wurden, dann starteten sie zu ihrer zweijährigen Odyssee in die Heimat Syrien.

Wie und warum aber der Maschinen-Messias das globale Energie- und Informationsnetz auf vermutlich atomarer Ebene kurzgeschlossen hatte, weiß ich nicht. Es ist mir bisher auch noch nicht gelungen, eine nur halbwegs vernünftige wissenschaftliche Erklärung dafür zu finden, geschweige denn, dem Messias damals auch nur das geringste Sterbenswörtchen diesbezüglich zu entlocken. Als ich Achmed fragte, winkte er ab: "Vergiß nicht, der Messias ist nur ein Mittler für die Allkraft, für Gott, für ES, für Allah. Und woher sollen wir wissen, was SEINE Pläne sind? Abu Mohammad ist ein Mensch. Wahrscheinlich trauert er genau wie alle anderen um sein Transistorradio...!"

Und so verblaßt langsam die Erinnerung, während unsere Wissenschaftler alle paar Wochen eine Theorie wieder verwerfen, an der sie zuvor monatelang bei Kerzenlicht herumgebastelt hatten. Von kosmischen Unwesen reden sie und von Synchronbrennpunkten extrem starker Emanationen, von interatomaren Interferenzfeldern und von schlichter einfacher Zauberei. Und Sergius zum Trotz wirbeln inzwischen sogar Kompasse, wenn man sie flach hinstellt. Vielleicht, liebe Schwestern und Brüder, ist diese 'neue' Welt doch die Erlösung, das Paradies. Einfach und naturverbunden. Immerhin hat der Messias auch den Antichristen, den 'Einäugigen Lügner’ vernichtet. Denn so wurde er im Nahen Osten schon seit vielen Generationen genannt, er, der Herr über spannengroße Menschen, er, der die Toten lebendig erscheinen läßt, doch nur als Schwindel... Ja, im Volksmund wurde ihm die Endzeit zugeschrieben, die letzte Lüge, ihm, dem TV!

Doch das Spanholz rußt und draußen kräht schon der Hahn. Nächste Woche werden wir hier am Neckar unsere erste 3-m-Maschine in Gang setzen. Zur Bewässerung sind diese Wasserwirbelsysteme optimal. Und wer weiß, vielleicht kulminiert sich irgendwann wieder ein Elektronenübergewicht, das wir in Drähten leiten können...

Seid in diesem Sinne lichtvoll mit Grüßen bedacht, von eurem Bruder in Aquarius,

Ronald Rippchen
Freibezirk Löhrbach im Odenwald


Originaltitel:
Al-Musabaka
Copyright (c) 1984 by Ghassan Homsi, Damaskus

Copyright (c) 1984 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München; erschienen in: 'Die Gebeine des Bertrand Russell' - Internationale Science Fiction Stories

Aus dem (syrischen) Arabisch übersetzt von A. M. Al-Khammas, Berlin

Leicht überarbeitete und korrigierte Version, Oktober 2013

 


Anm.: Über die Messias-Maschine selbst gibt es im Buch der Synergie mehr zu erfahren!



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